Schaut man sich die aktuellen internationalen Normen des ISO TC 197 oder der IEC 105 mit dem übergreifenden Schwerpunktthema "Sicherheit in der Wasserstofftechnologie" an, so fällt auf, dass fast jede dieser Normen gleich zu Beginn und als Grundlage für alle nachfolgenden Festlegungen verlangt, dass der Hersteller bzw. der Betreiber eine Risikobewertung durchzuführen hat.

Dies gilt für Wasserstofferzeuger mit Wasserelektrolyse ebenso wie für Tankstellen, Speicher, Transportmittel, Verteilerstationen, Tankstellen, Brennstoffzellensysteme und andere Segmente der Wasserstoff-Wertschöpfungskette. Als Beispiel zitiere ich hier die Norm ISO 19880-1: 2020: Gasförmiger Wasserstoff - Tankstellen - Teil 1: Allgemeine Anforderungen, Abschnitt 5.2: "Risikobewertung ist der Gesamtprozess der Risikoidentifizierung, Risikoanalyse, Risikobewertung und Risikominderung.“

Die Anwendung der Risikobewertung kann es den Betreibern und Planern von Tankstellen ermöglichen, flexibel stationsbezogene Risikominderungsmaßnahmen festzulegen, die ein gleiches oder besseres Risikoniveau erreichen als die vorgeschriebenen Empfehlungen - oder bestehende vorgeschriebene Risikominderungsmaßnahmen zu lockern, solange das Gesamtsystemrisiko unter der gewählten Toleranzschwelle (Risikoakzeptanzkriterien) bleibt. Es ist eine Risikobewertung für Wasserstofftankstellen durchzuführen -  es sei denn, die Tankstellen entsprechen präskriptiven Vorschriften, die die relevanten Risiken behandeln. Eine Anleitung zur Durchführung der Risikobewertung ist in Normen wie ISO 31000, IEC 31010 und/oder ISO 12100 zu finden. Die Risikobewertung sollte zeigen, dass die eingesetzten Maßnahmen zur Risikominimierung geeignet sind, das gewünschte Risikoniveau der Station zu erreichen. Es wird empfohlen, dass die Risikobewertung für die Wasserstofftankstelle quantitativ oder halbquantitativ durchgeführt wird. Zum besseren Verständnis wird auch auf Anhang A (informativ) "Sicherheitsmethoden und Risikobewertung" und Anhang B (informativ) "Weitere Hinweise zum Risikomanagement" verwiesen.

Einen ähnlichen Ansatz finden wir in den relativ neuen Normen für den nicht-elektrischen Explosionsschutz der Normenreihe IEC 80079-36ff. Auch hier stellt die risikobasierte Bewertung der Wirksamkeit nicht-elektrischer Zündquellen das zentrale Element des Sicherheitskonzepts dar. Diese Abkehr von einer rein deterministischen Normsetzung hin zu einem risikobasierten Ansatz, wie er in zahlreichen Normen schon seit langem umgesetzt wird, ist zu begrüßen.

Um solche wahrscheinlichkeitsbasierten Methoden richtig anwenden zu können, sollte man jedoch genau wissen, wie sie funktionieren und wo genau ihre Stärken und Schwächen liegen. Die erste Voraussetzung ist die Verwendung eines korrekten Risikobegriffs. Er lässt sich grob wie folgt definieren: „Risiko steht im Zusammenhang mit den mentalen und praktischen Aktivitäten von Menschen und deren Ergebnissen. Es bezieht sich auf die beabsichtigten, aber vor allem auf die unbeabsichtigten, auf die vorhersehbaren, aber vor allem auf die unvorhersehbaren Folgen von Handlungen. Die Unbestimmtheit der Zielerreichung wird bewusst in Kauf genommen. Risikowissen ist dann Wissen für den Umgang mit eben dieser Unbestimmtheit.“

In der Gesellschaft ist der Begriff des Risikos weitgehend emotional besetzt. Nach Daniel Kahneman (Thinking fast and slow) haben Menschen generell Probleme mit der Berücksichtigung von Zufällen und der damit verbundenen Wahrscheinlichkeitstheorie. Wir lehnen allzu bereitwillig die Vorstellung ab, dass vieles, was wir im Leben sehen, auf Zufall beruht. In Wirtschaft und Technik ist das Konzept des Risikos weitgehend rational. Leider ist es den Wissenschaftlern noch nicht gelungen, der Gesellschaft ihr Risikokonzept ausreichend bewusst zu machen. Der wissenschaftliche Ansatz findet seine Entsprechung in der bekannten Risikoformel: „Risiko ist gleich dem gewichteten Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß.“ Die Risikoformel ist im Prinzip richtig, aber wegen der hohen Komplexität der Risikowahrnehmung und -bewertung sowie wegen der oft unzureichenden empirischen Daten Kalibrierung und Gewichtung nicht einfach!

Die Objektivität der ermittelten Risikoparameter ist oft mangelhaft. Kausale Zusammenhänge sind oft kontextabhängig. Ein Beispiel: Sicherheitsrelevante Kenngrößen im Explosionsschutz. Oft ist zu wenig Detailwissen vorhanden, insbesondere bei seltenen Ereignissen. Modellannahmen für die Beschreibung sind oft unrealistisch. Man muss also sehr vorsichtig sein, wenn man risiko- und wahrscheinlichkeitsbasierte Methoden einsetzt - vor allem, wenn man sie noch nicht so oft verwendet hat.

Um gefährliche Fehleinschätzungen und -entscheidungen zu vermeiden, sollten Sie zunächst über ausreichende methodische Kenntnisse verfügen. Um diese zu erlangen, sind Normen wie die ISO 310100:2010: "Risikomanagement: "Verfahren zur Risikobeurteilung", ISO 12100: 2010: "Sicherheit von Maschinen - Allgemeine Gestaltungsleitsätze - Risikobeurteilung und Risikominderung" und der Technische Bericht ISO/TR 14121-2:2013: "Sicherheit von Maschinen - Teil 2: Praktische Anleitungen und Beispiele für Methoden" sehr hilfreich.

Die Arbeit in Risikobeurteilungsteams mit einer angemessenen Mischung aus verschiedenen relevanten Fachkenntnissen und Erfahrungen erhöht die Objektivität der Ergebnisse. Eine sorgfältige, umfassende und eindeutige Aufzeichnung und Kommunikation der Beurteilungsergebnisse trägt dazu bei, die Wissensbasis von Projekt zu Projekt zu erweitern.

Abschließend möchte ich den berühmten amerikanischen Mathematiker und Biologen Anatol Rapoport zitieren, der sich zu den Vorteilen und den Grenzen bzw. Gefahren quantifizierender Risikobewertungsmethoden äußerte: "Zweifelsohne ist die Quantifizierung in einigen Bereichen unerlässlich. Aber sie wird zu einer Falle, wenn sie rein formal angewendet wird. Quantifizierung wird zu einem verzerrten Bild, wenn man Nutzen und Schaden für Ereignisse kombiniert, die nie einen Präzedenzfall hatten – für die also die praktische Erfahrungsbasis nicht gegeben ist.“

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